Radsportweihe aus der Wasserflasche

Bevor heute die Tour nach Alpe d’Huez kommt: Unterwegs auf Serpentinen mit Radsportgeschichte (Von MARCUS BIERLEIN). ALPE D’HUEZ. Wasser! Water! Eau! Der zehnjährige Junge in dem Alpendörfchen Saint Etiennes de Ciunes schnappt sich sofort die Trinkflasche, flitzt ins Haus und ist eine Minute später mit dem gefüllten Bidon zurück. Seine Familie hat es sich am Straßenrand gemütlich gemacht und beobachtet den nicht endenden Strom von Rennradfahrern, der in wilder Jagd vom 1924 Meter hohen Col du Glandon ins Tal stürzt.

Es ist „Murmeltiertag“ in den französischen Alpen, dessen Symboltier dem härtesten Radmarathon des Landes und einem der schwersten in ganz Europa, „La Marmotte“, den Namen gegeben hat. Dabei sind es weniger die nackten Zahlen dieser sportlichen Herausforderung – auf 174 Kilometern gilt es am Col du Glandon, Telegraphe, Galibier und hinauf nach Alpe d’Huez 5200 Höhenmeter zu überwinden – die alljährlich mehr als 7000 ambitionierte Hobbyfahrer und Amateure anlockt, sondern die Aussicht, eins zu werden mit dem Mythos Tour de France. Und das umso mehr, als am heutigen 18. Juli „la grand boucle 2013“ genau wie „La Marmotte“ auch noch in Alpe d’Huez endet.

Rundschau-Redakteur Marcus Bierlein ist Mitglied im Radsportclub Rheinbach (RSC). Er fährt seit 2010 in der Freizeit ambitioniert und nimmt gelegentlich an Lizenz-Rennen des BDR, Jedermann-Rennen, EinzelzeitfahrenundTouren-KlassikernwiedemAmstelGoldRaceund Lüttich-Bastogne-Lüttich teil. (Foto: photobreton.com)

Das Flair, auf Originalstrecken zu fahren, auf denen Rennsportgeschichte geschrieben wird, ist bereits eine Teilnahme wert und wer die Strecke bewältigt, kann genau so stolz sein, wie heute Nachmittag der Sieger der Profis.

Die Königsetappe für die 7000 Radsportler um mich herum beginnt 1100 Meter tiefer unten im Tal, in Bourg d’Oisans, wo um 8 Uhr morgens die dritte Startgruppe in die Pedale einklickt und sich auf einer breiten Departementstraße Richtung Grenoble einrollt.
Erstaunlich viele Skandinavier und Briten sind dabei, auch Niederländer und Belgier, aber nur sehr wenige Deutsche, die den überlaufenen „Ötztaler“ in Österreich und den Dolomiten-Marathon in Südtirol vorziehen. Ein Startplatz bei der schwereren „La Marmotte“ ist leichter zu bekommen, aber auch hier ist das Limit nach Öffnung der Anmeldung Anfang Dezember schon innerhalb weniger Stunden erreicht.

Rochetaille nach zehn Kilometern ist schnell erreicht, von wo aus es rechts zum Col du Glandon abgeht. Kilometer um Kilometer windet sich das Sträßchen vorbei an zwei herrlichen Bergseen und schroffen Felsen hinauf. Das Schild „Summit 20km“ ruft unmissverständlich die anstehenden Schwierigkeiten in Erinnerung und dabei ist der Glandon nur das „Frühstück“ eines Serpentinen-Menüs, das immer opulenter wird.
Nach 20 Kilometern im Arc-Tal markiert Saint-Michel de Maurienne den Beginn des Col du Telegraphe, dessen 14 Kehren bis hinauf auf 1520 Meter und eine Abfahrt in die Senke von Valloire die 18 Kilometer zum Dach der Tour einleiten. Die Hektik ist hier, am Fuße des Galibier, längst aus dem Fahrerfeld gewichen, Kurbelumdrehung für Kurbelumdrehung geht es nach oben. Die Anzeige der Durchschnittssteigung für den jeweils nächsten Kilometer auf den gelb-weißen Kilometersteinen der D 902 bestimmt die Gemütslage: „10 % – oh Gott!; 8% – ok!“

Am Straßenrand öffnet ein Autofahrer alle Fenster und Türen und lässt die Boxer-Hymne „The eye of the tiger“ erklingen. Die Beine nehmen für ein paar Sekunden den Rhythmus auf, bevor das Tempo wieder auf ein Niveau fällt, das das Erreichen des Gipfels auf 2645 Metern Höhe machbar erscheinen lässt. Etliche müssen ihr Rad schon weit unterhalb schieben – was noch mühsamer ist.

Über drei Stunden sind seit Saint-Maurienne vergangen und 6:45 Stunden seit dem Start. Eine atemberaubende Aussicht auf Meije (3983 m), Rateau (3809 m) und Barre des Ecrins (4102 m) ist der Lohn und eine herrliche Abfahrt, vorbei am Denkmal für Tour de France-Gründer Henri Desgrange, Richtung Lautaret und Bourg d’Oisans, wo sich der Rundkurs nach 160 Kilometern schließt.

Was fehlt, sind 13 Kilometer hinauf nach Alpe d’Huez. 1150 Höhenmeter, gekennzeichnet durch 21 Kehren. „La montée mystique“ steht auf T-Shirts, die oben im Skiort angeboten werden, „der schmerzhafte Aufstieg“ würde besser passen. Dass die Tortur nach zehn Prozent auf den ersten drei Kilometern nachlässt, mag für diejenigen gelten, die unten frisch starten, am Ende des Marathons tut jede Kurbelumdrehung weh – erst recht bei einer Übersetzung von 38/23.

Erst als an der Kapelle St. Ferréol in der „Kurve der Holländer“ (Nummer 7), endlich die Ferienappartements von Alpe d’Huez ins Blickfeld kommen, löst sich die Anspannung. Hier bekommt jeder, der will, eine kräftige Dusche („de l’Eau?, Water?“), ganz wie ein Star der Tour de France und das fühlt sich nach 9:30 Stunden an wie eine Weihe zum echten Rennradfahrer.